Die bürgerliche, am kritischen Diskurs orientierte Öffentlichkeit ist in Europa seit der Neuzeit in einem längeren gesellschaftlichen Wandlungsprozess entstanden.
Sie unterschied sich von der repräsentativen Verlautbarungs-Öffentlichkeit von Amts- und Würdenträgern durch den idealtypisch gedachten freien, vernunftgeleiteten Austausch von Argumenten, durch den kommunikative Macht entfaltet und Einfluss auf das Handeln der administrativen Macht genommen werden konnte. Bürgerliche Öffentlichkeit stellte somit einen gesellschaftlichen (Macht-)Faktor dar. Gleichwohl bestanden Zutrittsbarrieren, insofern bevorzugt Menschen teilnahmen, die die bürgerlichen Attribute von Bildung und Eigentum vorweisen konnten.
In der später einsetzenden modernen Industriegesellschaft wurde Öffentlichkeit durch Massenmedien einerseits ermöglicht, andererseits durch die damit einhergehende Medienmacht begrenzt. Diese und weitere Prozesse beschrieb und reflektierte der Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas in seiner Habilitationsschrift “Strukturwandel der Öffentlichkeit”. Er verband mit der Idee des freimütigen, rationalen, gesellschaftlichen öffentlichen Diskurses die Auffassung, darüber zu einem Konsens zu gelangen, an den sich alle Akteure binden würden.
Der aktuelle Strukturwandel von Öffentlichkeit setzt mit dem Internet und den sozialen Medien ein.
Öffentlichkeit differenziert sich weiter aus. Bürger/innen können selbst veröffentlichen und sich nicht nur über Medien, sondern auch über andere Bürger/innen informieren. Das Internet ist damit demokratischer. Zugleich verlieren traditionell etablierte Medien an Einfluss und Deutungsmacht. Wortschöpfungen wie “Fake News” und “Filterblase” markieren vor diesem Hintergrund einerseits einen Sachverhalt. Sie sind andererseits zugleich selbst Instrumente im Kampf um die Deutungshoheit. Angesichts solchermaßen veränderter ‚Strukturen der Produktion von Wahrheit‘ erhebt sich die Frage nach dem Kriterium für richtige und falsche Aussagen. In der Vielfalt des Informationsangebots kommt dabei auch einem Beziehungsaspekt Bedeutung zu: dem Vertrauen. Dem ist eine freimütige, Vielfalt spiegelnde und an Argumenten ausgerichtete Diskussionskultur nur zuträglich. Diese zu praktizieren und sich der Tücken von Manipulation zu bewusst zu werden ist allerdings eine gesamtgesellschaftliche Lernaufgabe. Sie birgt ein hohes Demokratiepotenzial für die politische Kultur eines Gemeinwesens. Mehr noch, gleichberechtigte Teilhabe und Teilnahme – bei allem Respekt – ermöglichen die Erfahrung von Zugehörigkeit, ohne dass Unterschiede eingeebnet werden müssen.
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Filter, Fake, Fidelity. Der aktuelle Strukturwandel von Öffentlichkeit
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